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Beitrag vom 24.11.2022
Sonne. Kinostart 1.12.2022
Helga Egetenmeier
Nominiert für den Europäischen Filmpreis in der Kategorie "European Discovery – Prix FIPRESCI". Regisseurin Kurdwin Ayub erzählt in ihrem bei der Berlinale 2022 mit dem Preis Bester Erstlingsfilm ausgezeichneten Spielfilmdebüt die Geschichte der in Wien lebenden Teenagerin Yesmin. Sie trägt Hijab, büffelt fürs Abitur und wird ganz nebenbei mit ihren zwei Freundinnen zum Social-Media-Star. Beinahe dokumentarisch...
... zeigt der Film den Weg einer junge Frau zwischen jugendlicher Leichtigkeit, familiären Ansprüchen und kulturellen Traditionen.
Generation Z - Aufwachsen im Smartphone-Zeitalter
Kurdwin Ayub steigt mit der Szene ein, die das Leben von Yesmin (Melina Benli) und ihren Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) verändern wird. Zu lauter Musik lässt sie die drei Teenagerinnen im Jugendzimmer von Yesmin herumalbern. Und da diese immer Hijab trägt haben sich Bella und Nati aus Spaß die Kleidung ihrer Mutter angezogen, die diese zum Beten trägt. Sie posen damit vor der Kamera und covern in dieser ausgelassenen Stimmung den Song "Losing My Religion". Mit diesem Videoclip werden sie zu Social-Media-Stars, werden aber auch kritisiert, darunter von Yesmins Mutter, die sich darüber entrüstet, dass ihre Tochter sich vermeintlich über sie und die Religion lustig macht.
Zwischen Unabhängigkeit, Familie und Tradition
Im Zentrum der Geschichte steht die Familie von Yesmin. Ihr Vater und ihre Mutter - gespielt von den Eltern der Regisseurin - streiten sich oft in der engen Drei-Zimmer-Wohnung. Dabei verteidigt die Mutter ihren Sohn Kerim, der sich bis tief in die Nacht mit seinen Freunden trifft. Doch mit dem Aufbruch in die mediale Freiheit, die ihre Tochter lebt, kann sie nichts anfangen. Dem Vater ist dagegen sein Sohn fremd. Statt sich mit seiner pubertären Aggression auseinander zu setzen, hilft er lieber seiner Tochter und deren Freundinnen, ihre Bekanntheit zu steigern, indem er ihnen Auftritte besorgt, Likes verteilt und den Chauffeur spielt.
So fliehen Vater und Tochter aus der kleinen Wohnung, um bei Hochzeiten und Familienfesten in eine fröhliche, glitzernde Welt einzutauchen. Der Vater gefällt sich in der Rolle des Chauffeurs und Managers von Yesmin, Bella und Nati. Während dieser Zeit liegt seine Frau allein zuhause im Bett und macht sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder.
"Losing My Religion" - Ein Coversong und seine Interpretationen
Der Song, den die US-amerikanische Alternative-Rock-Band REM 1991 veröffentlichte, ist allgegenwärtig in dem Film. Auch wenn die Übersetzung ins Deutsche ("die Nase vollhaben / die Geduld verlieren") keinen Bezug zu Religion herstellt, kommen Yesmin, Bella und Nati über dieses Lied ins Gespräch mit zwei jungen kurdischen Männern und diskutieren mit ihnen über die Bedeutung von Religion und das Tragen des Hijabs. Dabei treffen unterschiedliche Weltbilder aufeinander, die die jungen Frauen in eine Auseinandersetzung um die Bedeutung von Identitäten und den Umgang mit religiösen Symbolen bringen, denen sie bis dahin aus dem Weg gegangen sind.
AVIVA-Tipp: Zwischen Freundinnen und Familie, den Freiheiten des Social-Media-Zeitalters und den Strängen traditioneller Kultur, entwirft Kurdwin Ayub einen facettenreichen Film um das Erwachsenwerden junger Frauen. Trotz all der Fragen zu Religion und Identität darf ihre Hauptfigur zwischen Alltag und Abitur auch ausgelassen und glücklich sein.
Auszeichnungen
2022: Internationale Filmfestspiele Berlin: GWFF-Preis Bester Erstlingsfilm, Sektion Encounters: Preis für den Besten Film und für die Beste Regie
2022: Thomas-Pluch-Drehbuchpreis - Kurdwin Ayub: Auszeichnung mit dem Spezialpreis
2022: Viennale - Auszeichnung mit dem Wiener Filmpreis
2022: Filmkunstfest MV in Schwerin: Hauptpreis Der Fliegender Ochse als bester Spielfilm, Nachwuchspreis für die beste darstellerische Leistung für Melina Benli
2022: Nominierung für den Europäischen Filmpreis in der Kategorie "European Discovery – Prix FIPRESCI"
Zur Regisseurin: Kurdwin Ayub, geboren 1990 im Irak, legt und arbeitet als Regisseurin und Drehbuchautorin in Wien. Dort studierte sie von 2008 bis 2013 Malerei und experimentellen Animationsfilm an der Universität für angewandte Kunst und parallel dazu performative Kunst an der Akademie der bildenden Künste. Sie erhielt für ihre Kurzfilme mehrere Preise und für ihren ersten Langfilm, den Dokumentarfilm "Paradies! Paradies!" (2016), gewann sie den Preis für die Beste Kamera bei der Diagonale (Festival des österreichischen Films) 2016, wie auch den Carte Blanche Nachwuchspreis bei der Duisburger Filmwoche 2016. Den Jury-Preis für den besten Kurzfilm beim Filmfestival Max Ophüls 2019 gewann sie mit "Boomerang".
Hauptdarstellerinnen: Melina Benli, Law Wallner und Maya Wopienka sind Laiendarstellerinnen, mit denen die Regisseurin bereits Kurzfilme drehte und in freundschaftlichem Kontakt steht, so Kurdwin Ayub in einem Interview.
Sonne
Österreich 2022
Regie und Buch: Kurdwin Ayub
Kamera: Enzo Brandner
Darsteller*innen: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka, u.a.
Verleih: Neue Visionen
Lauflänge: 88 Minuten
Kinostart: 01.12.2022
Mehr zum Film und der Trailer unter: www.neuevisionen.de und www.facebook.com
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Zum 7. Mal geht der Goldene Bär mit Carla Simón an eine Regisseurin, je einen Silbernen Bären erhielten Meltem Kaptan und Laila Stieler. Kurdwin Ayub wurde von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten mit dem "GWFF Preis Bester Erstlingsfilm" ausgezeichnet. (2022)